Biographisches Lernen und Lernen an Wendepunkten

In einer biographischen Perspektive findet Lernen lebenslang statt. Die Idee des biographischen Lernens setzt voraus, dass Lernen nicht auf formale Kontexte beschränkt ist. Gelernt wird in unterschiedlichen Settings. In der Lerntheorie wird hier unterschieden zwischen formalen (Institutionen wie Kindergarten, Schule Universitäten mit Curricula und Abschlüssen), non-formalen (strukturiert, aber außerhalb des offiziellen Bildungssystems: Workshops, politische Bildung etc.) und informellen (persönliches Lernen, Hobbies, alltägliche Lernprozesse) Bildungskontexten. Die OECD hat erst relativ spät die gleichwertige Bedeutung von non-formalen und informellen Lernkontexten anerkannt.

Die Menschen bilden sich immer weiter, die Kontexte unterscheiden sich. Donna Haraway hat dafür den Begriff des „situated knowledge“ geprägt. Das bedeutet, das Lernen und das Wissen, welches beim Lernen angeeignet wird, immer in konkreten Situationen stattfindet. Diese Situationen befinden sich im ständigen Wechsel, so dass situativ permanent neu gelernt wird. In Haraways Ansatz gibt es keine Hierarchie des erworbenen Wissens. Im Austausch von Wissen können alle von allen immer lernen.

Lebenslanges Lernen ist ein Konzept, welches sich vorrangig auf formale Kontexte bezieht (Weiterbildung im Beruf, in Volkshochschulen etc.). Lebenslanges Lernen ist also von biographischem Lernen zu unterscheiden. Biographisches Lernen bedeutet zum einen die lebenslange Aneignung von Wissen eines jeden Menschen, zum anderen meint biographisches Lernen den Einsatz konkreter Methoden der Biographiearbeit oder der biographischen Forschung.Die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt befindet sich in einem ständigen Resonanzverhältnis (Alheit 2022). In diesen Resonanzraum fließen die individuellen biographischen Erfahrungen ein und verbinden sich mit neuen Erfahrungen. Die biographischen Ressourcen können in Lernprozessen aktiv aufgerufen und genutzt werden, z.B. für die Entwicklung individueller Förder- und/oder Unterstützungsstrategien.

Im Abruf von aktuellem Wissen in Lernkontexten bleiben die biographischen Erfahrungen und Ressourcen oft verborgen. Zudem ist es nicht einfach, Lernprozesse überhaupt zu beschreiben und zu identifizieren, weil sie oft im Verborgenen ablaufen und Effekte nicht direkt an Situationen gekoppelt werden können, sondern erst viel später in anderen Situationen sichtbar werden.

Biographiearbeit ist in Deutschland seit den 1970er Bildungsreformen ein Bestandteil in der Kinder- und Jugendhilfe. In der Ausbildung der Sozialen Arbeit und dementsprechend in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit hat die Biographiearbeit einen hohen Stellenwert. Ihre Ursprünge liegen bereits in den 1920er Jahren bzw. seit der Erfindung der Psychoanalyse und psychotherapeutischer Arbeit um die Jahrhundertwende (19./20.Jh.). In diesen Kontexten wird biografisches Arbeiten als Schlüssel zu verborgenen psychischen Strukturen der Menschen gesehen und die Aufdeckung als Zugang zu Heilung und Verbesserung der Lebensqualität. Die pädagogische Aneignung des biographischen Arbeitens verfolgt das Ziel, Menschen in Hilfe- und Lernkontexten optimale Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Dabei kann retrospektives Arbeiten Wege in eine andere Zukunft weisen.

Methoden der Biographiearbeit
Wenn ihr im Jugendamt ein Praktikum machen würdet, kämt ihr sehr bald mit der Methode der Genogrammarbeit in Berührung. Diese biographische Methode wird im Studium der Sozialen Arbeit sehr intensiv gelernt.
Ein Genogramm ist eine grafische Darstellung, in welcher die Beziehungen und Interaktionen von Familienmitgliedern über mehrere Generationen hinweg rekonstruiert werden. Es ähnelt einem Stammbaum, enthält jedoch Details über die Beziehungen zwischen den Personen. Genogramme werden häufig in der Familientherapie und in der Beratung verwendet, um Muster von Verhalten, psychologischen Merkmalen und medizinischen Vorgeschichten zu erkennen. Genogramme zeigen nicht nur, wer mit wem verwandt ist, sondern auch wie diese Personen miteinander interagieren. Zum Beispiel können sie enge Beziehungen, entfremdete Beziehungen, Konflikte und andere Dynamiken darstellen. Genogramme können dazu verwendet werden, wiederkehrende Muster von Verhalten, Berufen, Bildungsniveaus und anderen sozialen oder psychologischen Merkmalen in einer Familie zu identifizieren. Ein Genogramm kann Informationen über drei oder mehr Generationen einer Familie enthalten, auf diese Weise können Familienmuster erkannt werden. Genogramme verwenden eine Vielzahl von Symbolen, um Geschlecht, Beziehungsstatus, emotionale Beziehungen und andere Aspekte der Familienstruktur darzustellen. Deswegen muss diese Methode auch gelernt und geübt werden, obwohl heute eine Vielzahl von Programmen online zur Verfügung stehen.

lhttps://gitmind.com/de/genogramm-maker.html

Weitere Methoden der Biographiearbeit sind künstlerische Zugänge (Arbeiten mit Farbe oder Ton), Rollenspiele, Aufstellungen, die Arbeit mit Objekten, Lebenslinien, Storytelling. Dabei können Teilbiographien in den Fokus genommen werden, z.B. die Bildungsbiographie, die Spielbiographie, die politische Biographie.
Auch in qualitativen Forschungsmethoden finden wir biographische Ansätze. Dazu gehören das z.B. das biografisch-narrative Interview, die partizipative Langzeitbeobachtung, die Aktionsforschung und Lebensgeschichten.

Beispiel: Lernen an Wendepunkten

Eine Studierende schreibt zum Thema “Lernen an Wendepunkten”:

„Beim Reflektieren der ersten Aufgabe ist mir aufgefallen, dass ich besonders positive Lernerfahrungen gemacht habe, wenn ich mich bewusst mit Themen auseinander gesetzt habe, die mich persönlich interessieren.“

Als Pädagog*innen ist es für uns bedeutsam, komfortable Lernumgebungen zu schaffen. Damit ist gemeint, dass angstfrei und in respektvoller Atmosphäre sowie in individuumsgerechten Interaktionen gelernt werden kann.

Die Bezeichnung „komfortables Lernen“ wird in Diversity- und Antidiskriminierungstrainings und in Lerntheorien benutzt, um Lernerfahrungen zu beschreiben, die keine besondere emotionale Herausforderung darstellen. Gemeint sind damit Lernsituationen, in denen wir leicht an unser bestehendes Wissen anknüpfen können und neue Informationen darin gut integrieren können (Czollek/Weinbach 2018). In diesen Situationen erweitern wir auf jeden Fall unser Wissen, nicht immer unsere Perspektiven. Perspektivenerweiterung geschieht häufig beim Lernen an Wendepunkten. Wenn Menschen etwas Neues, ganz und gar Unvertrautes und Herausforderndes kennen lernen, das sie nicht leicht in ihre bestehenden Wissensmuster zu integrieren vermögen, können sie sich zuweilen an Wendepunkten bewegen (Czollek/Weinbach 20218).

An Wendepunkten verändert sich oft das Bewusstsein, Perspektiven werden gewechselt und erweitert, möglicherweise neue Denkstrukturen gelegt. Woran erkennen wir selbst, dass wir uns einem Wendepunkt befinden? Die Begegnung mit unvertrauten, ganz neuen, uns befremdenden Denkstrukturen kann sich in Wut und Ärger zeigen, weil das komfortable eigene Denksystem bedroht erscheint („Ich dachte, ich weiß darüber Bescheid, aber nun sagt mir jemand was ganz Anderes dazu.“). Es können aber auch Ängste und Unsicherheit ausgelöst werden („Ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich dazu denken soll.“) oder Irritation und Verwirrung („Das sind so viele verschiedene Sichtweisen, was ist denn richtig?“) oder eine defensive Haltung („Was diese Dozentin sagt, glaube ich sowieso nicht.“). Lernen an Wendepunkten kann sich auch darin zeigen, dass Menschen Langeweile empfinden oder sich von Inhalten ablenken. Überraschung und freudiges Erstaunen sind ebenfalls mögliche Reaktionen, die darauf hinweisen können, das gerade ein Wendepunkt beim Lernen stattfindet.

Alle diese Gefühle sind bedeutsam und wichtig. Sie begleiten die Möglichkeit zu lernen und Gefühle beim Lernen können zeigen, dass eventuell sichere Denkstrukturen erschüttert werden. Wenn wir über unsere Wendepunkte beim Lernen nachdenken, so sind diese nicht immer leicht zu lokalisieren, weil viele Gespräche, Literatur, Erfahrungen zum Umdenken und Andersdenken beitragen, aber manchmal können wir uns besonders gut an Wendepunkte erinnern. Möglicherweise passieren soeben in dieser Zeit einer fast überstandenen Pandemie, einer Kriegssituation in Europa, einer drohenden Rezession besondere Lernprozesse und es entstehen völlig Erfahrungen und neue Perspektiven. Manchmal ist es ein Vortrag, ein Buch, ein kurzes oder langes Gespräch, ein Zeitungsartikel, eine Hausarbeit, ein Film oder eine sehr persönliche Erfahrung, die einen Wendepunkt und eine neue Sicht auf ein Thema provoziert.

Wenn es gelingt, die neuen Perspektiven anzunehmen, zu verarbeiten und die Herausforderungen anzunehmen, entstehen oft tiefe Lernerfahrungen. Menschen können sich auch bewusst Wendepunkten aussetzen, sie gewissermaßen konstruieren, wenn sie merken, dass sie festgefahren sind, wie ein Jugendlicher hier beschreibt.

Graphiknachweis: Armour, Philipp Glen (2006): The Learning Edge

Wenn Lernende sich in der Kompetenz- und somit Flowzone (Competency Zone) des Lernens befinden, sind sie offen für Wendepunkte. Wie solche Lernerfahrungen in Bildungssettings ermöglicht werden können, damit beschäftigt sich sowohl die Lerntheorie, die Philosophie des Lernens als auch die Didaktik. Im nächsten Blogbeitrag werde ich dieses Thema aufgreifen.

Anregung für einen Kommentar

Reflektiere Wendepunkte in Lernprozessen in deiner Biographie. Welche Gefühle hattest du? Wie bist du mit der Situation umgegangen? Wie kannst du bewusst Lernprozesse herbeiführen, in denen du deine Perspektiven erweiterst und Neues zulassen kannst? Beschreibe ein Buch oder einen Text, die einen Perspektivenwechsel bei dir bewirkt haben.

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