Lerntheorien: ein plurales Feld

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Lernen, scheinbar eine Tätigkeit, die unentwegt stattfindet und ohne Unterbrechung von Menschen, Erwachsenen wie Kindern praktiziert wird, bleibt in Theorie und Wissenschaft eine fragwürdige Angelegenheit, Gegenstand immer wieder neuer und überraschender Erkenntnisse. Jeden Tag erhalten wir neue empirische und theoretische Ergebnisse durch wissenschaftliche Studien. Zum Beispiel habe ich vor ein paar Tagen eine Darstellung gelesen, die sich mit dem Abrufen von Wissen befasst und den Techniken, die darauf beruhen, dass Kinder Wissen festigen können. In diesem Text wurde aufgezeigt, dass dieser Aspekt für Kinder ab zwei Jahren oder sogar jünger noch kaum erforscht ist. Abrufen von Wissen kann pädagogisch dadurch umgesetzt werden, dass ein Kind ein anderes Kind etwas lehrt, oder indem Antworten auf gestellte Fragen per Klick beantwortet werden (Lernprogramme) oder Flashcards verwendet werden. Abruftechniken dienen dazu, dass Gedächtnis zu stärken und damit auch die Fähigkeit zum komplexen Denken, so das Fazit (Fazio/Marsh 2019). Die Fähigkeit zur Fokussierung wiederum gilt als einer der Schlüssel zur Entstehung von Bewusstsein und Bewusstheit in der Menschheitsgeschichte und in der individuellen Geschichte (Graziano 2019).

Jede neue empirische Untersuchung zum Lernen wirft neue Fragen auf und verweist uns somit auf die Philosophie des Lernens. Theorien des Lernens bieten uns Modelle dazu an, wie wir Lernen, Lernprozesse erklären können, ein Nachdenken und Diskutieren über diese Modelle führt in philosophisches Reflektieren, das heißt eine Art freies Nachdenken, Fragen stellen, Argumentationen entwickeln, immer unter der Einsicht, dass es sich hierbei um Suchbewegungen handelt, kurze Momente von Wahrheitsgefühlen, die schnell in neue Ungewissheiten übergehen können. Theorien und Philosophien des Lernens sind eine Art „Geländer“ (Arendt ), wir können uns, wenn hilfreich und notwendig, für einen Weg lang, daran festhalten. Irgendwann müssen wir aber auch wieder los lassen.

Schauen wir uns Darstellungen, wie denText von Reinmann oder eine Videoerklärung an,
wo Theorien des Lernens erläutert werden, fallen zwei Aspekte auf. Erstens ist keine Darstellung von lerntheoretischen Modellen vollständig, sondern immer eine bestimmte Auswahl. Wenn Theorien des Lernens empirischen Untersuchungen unterlegt werden, greifen sie immer auf bestimmte, ausgewählte Theorien zurück, diese haben natürlich Effekte auf die empirische Forschung und entscheiden möglicherweise darüber, was beforscht wird oder was nicht untersucht wird. Denn eine Theorie beeinflusst auch die Perspektive der Forschenden.
Zweitens bilden Darstellungen der Theorien des Lernens ein breites Spektrum an Erklärungshintergründen ab. Dieses Spektrum lässt sich sehr allgemein formuliert auf vier wissenschaftliche Zugänge herunterbrechen (religiöse, d.h. mit Bezug auf Gott formulierte oder esoterische, mit Bezug auf das Universum ausgerichtete Erklärungsmodelle bleiben hier außen vor, da sie nicht als wissenschaftlich gelten):
1. Neurowissenschaftlich oder genetisch, evolutionsbiologisch ausgerichtete Theorien
2. Gesellschafts- und Sozialisationstheorien, wie zum Beispiel der Ansatz der Peersozialisation
3. Posthumane Theorien, die eine andere Auseinandersetzung mit Umwelt, Tieren, unbelebter Natur als Lernpotenziale in den Vordergrund rücken und eine Dezentrierung der Überlegenheit des Menschen thematisieren.
4. Mischungen aus diesen Richtungen, zum Beispiel beschreiben viele zeitgenössische Theorien eine Wechselwirkung, ein Ineinandergreifen von biologischen und Gesellschaftsfaktoren, von Anlage und Umwelt.

Anmerkungen zum Text von Reinmann: Didaktisches Handeln. Die Beziehung zwischen Lerntheorien und didaktischem Design

Reinmann schlägt vor, dass es sinnvoll sein könnte, sich an einer Lerntheorie zu orientieren, wenn es darum geht, didaktische Designs zu entwickeln, wie beispielsweise die Theorie von Schäfer, die in der Lernwerkstatt Natur oder Montessoris Ansatz, der in Montessori-Kindertagesstätten umgesetzt wird. In den skandinavischen Ländern und auch in Reggio Emilia finden wir eine Pluralität von unterschiedlichen Ansätzen und ein immer wieder neues Ausprobieren von Theorien in der Praxis. Das bedeutet, dass von konstruktivistischen Ansätzen zu dekonstruktivistischen Ansätzen oder zu neuen materialistischen Ansätzen gewechselt wird und dementsprechend neue pädagogische Praxen entstehen können.

Schon lange gibt es aus der Schulforschung kommend die Frage, ob Kinder somit zum Experimentierfeld von Wissenschaftler*innen werden. Dem entgegen steht die Argumentation, dass es wichtig sei, neue Erkenntnisse umzusetzen und gerade wenn es um das Lernen geht, nicht an alten Ansätzen zu haften, sich stattdessen neuen Zugängen zu öffnen, zum Wohle der Kinder. Diese Debatten sind kontrovers und sie reichen von der Frühpädagogik bis zur Hochschuldidaktik. Reinmann schlägt vor, den theoretischen Rahmen von Lerntheorien auf drei große Linien zu begrenzen, Bahaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus: „ … z.B. Lernen als Verhaltensänderung, als Informationsverarbeitung, als Bedeutungskonstruktion“ (Reinmann 2013, 6). Mit diesem Rahmen lassen sich tatsächlich viele Theorien, die daraus hervorgegangen sind, erfassen. Zugleich werden aber auch Ansätze, die bewusst mit diesen Ansätzen brechen und in neue Richtungen denken, wie posthumane Theorien zum Beispiel, unsichtbar. Somit besteht die Gefahr Machtsysteme des Denkens herzustellen oder zu reproduzieren. Freilich wird diese Sichtweise dann nur von denjenigen eingenommen, die den beschriebenen Ansätzen nicht folgen wollen oder nur Teilaspekte aufgreifen möchten.

Der von Reinmann beschriebene Ansatz Behaviorismus bezieht sich u.a. auf die Lerntheorie von Bandura. Nachahmungs- und Modellernen werden in der Kindheitspädagogik nach wie vor als Bezugspunkte, auch empirischer Studien gewählt. Kognitivistische Lerntheorien, wie von Reinmann beschrieben, sind ebenfalls weiterhin Bezugspunkte für kindheitswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung. Piaget wird hierunter häufig gefasst. In der Literatur finden sich auch andere Zuschreibungen dieser Ansätze, so wird Piaget den Vorläufern des Konstruktivismus zugeordnet oder Bandura dem Kognitivismus. Der Konstruktivismus, von Reinmann, als drittes Bezugssystem beschrieben, hat seit den 1990er Jahren Eingang in die Kindheitspägagogik gefunden und entwickelt sich schrittweise zu einem zentralen Ansatz, der auch Ausgangspunkt für Bildungsprogramme der Länder geworden ist, wie zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Auch Reinmann verweist darauf, dass keine Theorie alles oder gar umfassend erklären kann, sondern immer nur Ausschnitte angesprochen werden können. Faktisch könnte hier ergänzt werden, dass es eine Pluralität von Aspekten gibt, die jedoch keineswegs auf ein abgeschlossenes Ganzes verweisen, sondern vielmehr auf ein unendlich sich weiterentwickelndes Mosaik.

Für die Entwicklung didaktischer Designs, also die Ausarbeitung von überlegten, geplanten pädagogischen Szenarien sieht Reinmann zwei Ansatzpunkte. Ein didaktisches Design kann auf der Grundlage einer Lerntheorie (oder Aspekten von Lerntheorien) entwickelt werden, wie zum Beispiel im konstruktivistischen Methodenpool aufgezeigt: „Unter der Bezeichnung Instructional-(System)Design (ISD) wird damit in der Regel „die systematische Entwicklung von Lernangeboten auf der Grundlage empirischer Forschung zum Lehren und Lernen“ (Kerres, 2012, 197) erfasst” (Reinmann 2013; 7). Oder alternativ schlägt Reinmann vor, didaktische Designs an Taxonomien zu orientieren, die faktisch Kategoriensysteme für die Formulierung von Lernzielen bereitstellen. Viele Hochschullehrende orientieren sich beispielsweise an der Bloomschen Taxonomie und richten ihre Didaktik und ihre Bewertungen danach aus.

Mein eigener didaktischer Ansatz orientiert sich nicht an der Bloomschen Taxonomie, sondern ich ziehe es eher vor, meine Konzepte an Theorien zu orientieren und eher danach auszurichten sowie auch an empirischen Erkenntnissen. Allerdings handhabe ich dieses auch flexibel und lege mich nicht auf eine Theorie vollständig fest, tendiere aber immer wieder zu Konstruktivismus und Dekonstruktivismus derzeit. Wie in Reinmanns Darstellung sichtbar wird, kommen in ihrem Artikel Ansätze wie Dekonstruktivismus oder Posthumanismus nicht vor, wenngleich sie im öffentlichen Wissenschaftsdiskurs so präsent sind, dass Wissenschaftlerinnen an Universitäten international diese Ansätze vertreten, wie zum Beispiel Dekonstruktivismus und Posthumanistisches Denken.

In den meisten lerntheoretischen Ansätzen spielt die Frage nach den Anfängen des Lernens und die Frage, wie Kinder lernen, eine bedeutsame Rolle. Von hier aus kann die Frage aufgerollt werden, wie Lernen unterstützt, begleitet, gefördert werden kann. Je nachdem, welche Lerntheorie zugrunde gelegt wird, können daraus unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden. Diese Ansätze können sich ergänzen, sie müssen nicht zwangsläufig in Konkurrenz zueinander stehen. Der erfahrungsorientierte Ansatz von Schäfer, Hüther (deutschsprachiger Kontext) oder der kognitiv-orientierte Ansatz der Theory of Mind (ToM, aus angelsächsischem Kontext) sowie kulturkritisch-orientierte Ansätze (postkoloniale, indigene Wissenstheorien) zeigen verschiedene Sichtweisen auf Lernen und müssen sich bei der Umsetzung in eine didaktische Praxis nicht ausschließen.
Je nachdem welche Theorien aus der Praxis entwickelt wurden und werden, je nachdem aus welchen Theorien Praxismodelle entwickelt werden, sieht die Pädagogik jeweils unterschiedlich aus und es scheint nicht die eine richtige Antwort auf die Frage zu geben: wie lernen Kinder und wie können Kinder in ihren Lernprozessen begleitet werden?

Im nächsten Blogbeitrag wird es um die Frage nach Intelligenz,Talent, Begabung und Förderung gehen. Diese Themen durchziehen kindheitspädagogische Diskurse, wenn es um Lehr-Lern-Settings und deren Ausgestaltung geht.

Zum Weiterarbeiten

Wählt eine Lerntheorie aus aus (wenn möglich eine Theorie, mit der ihr euch bisher noch nicht tiefer befasst habt) und recherchiert diese Theorie, lest Texte dazu, seht euch Videos an oder hört Podcasts dazu. Zunächst geht es darum, die Theorie zu verstehen, also zu beschreiben, sodann zu befragen, zu diskutieren und kritisch zu reflektieren. Möglicherweise findet ihr auch empirische Studien, die sich auf diese Theorie beziehen.

Literatur

Graziano, Michael S.A.(2019): Rethinking Consciousness, New York.

Fazio, Lisa K. / Marsh, Elizabeth J. (2019): Retrieval-Based Learning in Children. Current Directions in Psychological Science, Vol. 28 (2), 111- 116.

Reinmann, Gabi (2013): Didaktisches Handeln. Die Beziehung zwischen Lerntheorien und Didaktischem Design, in: Ebner, Martin/Schön, Sandra (Hg.) Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien.

One thought on “Lerntheorien: ein plurales Feld

  1. Blogbeitrag
    Während unseren Studiums haben wir uns schon häufig mit der Frage beschäftigt, wie Kinder eigentlich Lernen und ihr Wissen verarbeiten. Ich habe schon viel über die Vorgänge im Gehirn gelernt und wie verschiedene Bereiche zusammenspielen, um Lernen zu ermöglichen. Doch ich frage mich, welche Lerntheorien Kindern helfen, zu lernen und sich Wissen anzueignen und dieses zu speichern. In dem folgenden Kommentar beleuchte ich vor allem die Sozial-kognitive Lerntheorie (Modelllernen), da ich mehr über dieses Konzept erfahren möchte, um gegebenenfalls Verknüpfungen aus dem Alltag zu ziehen.
    Zunächst lässt sich allgemein sagen, dass Lerntheorien erklären, wie Menschen Wissen erwerben, verarbeiten und behalten. Sie helfen dabei, Lernprozesse zu verstehen und effektive Lehrmethoden zu entwickeln (Eigenbrodt, O. (2024)).
    „Modell- oder Beobachtungslernen ist Beeinflussung von Verhaltensweisen durch Beobachtung eines Modells (Vorbildes), das entweder real (z.B. als Person) oder symbolisch (z.B. als Text) gegeben sein kann“ (Roth, J. (2003/2004)). Modelllernen bezieht sich auf die Tatsache, dass Menschen lernen, indem sie das Verhalten anderer beobachten und nachahmen. Die Prozesse beim Modelllernen beziehen sich auf die Aneignung (Akquisition) und der Ausführung (Performanz). Zunächst muss der Lernende dem Modell Aufmerksamkeit schenken und das beobachtete Verhalten mental speichern (Aufmerksamkeitsprozesse; Gedächtnisprozesse). Anschließend muss der Lernende in der Lage sein, das Verhalten auszuführen und einen Grund haben, das Verhalten zu zeigen, zum Beispiel durch Belohnung (motorische Reproduktionsprozesse; Motivationsprozesse). Mögliche Effekte dieser Theorie wären beispielsweise, dass neue kognitive Fähigkeiten und Verhaltensmuster angeeignet werden oder dass das emotionale Erregungsniveau verändert wird, wenn emotionale Inhalte beim Modell beobachtet werden (Roth, J. (2003/2004)).
    Ich denke, dass Modelllernen heutzutage immer kritischer wird, vor allem bei etwas älteren Kindern. Auch sie lernen jeden Tag Neues dazu, jedoch lernen sie immer mehr von Vorbildern aus dem Internet, statt von Eltern oder Bezugspersonen. Dies bezieht sich auf einen Nachtteil des Modelllernens. Kinder übernehmen möglicherweise falsche Verhaltensweisen, zum Beispiel von Influencern aus dem Internet. Diese posten alles Mögliche in den soziale Netzwerken und Kinder haben heutzutage häufig unbegrenzten Zugang zu diesen. Hier können sie beispielsweise aggressives Verhalten oder Gewalt übernehmen, wenn sie denken, dass es „cool“ sei. Weiterführend kann es ebenfalls dazu kommen, dass Verhaltensweisen unreflektiert übernommen werden, anstatt sie zu hinterfragen oder anzupassen. Junge Menschen übernehmen also Trends aus den sozialen Medien ohne Bewertung möglicher Risiken. Um bei dem Thema der soziale Medien zu bleiben, sehe ich auch ein großes Problem in unrealistischen Vorbildern. Besonders in den Medien werden oft idealisierte oder unerreichbare Lebensstile gezeigt, was zu Frustration, geringem Selbstwertgefühl oder ungesunden Vergleichen führen kann. Dies bezieht sich zwar meist auf Jugendliche und junge Erwachsene, jedoch birgt dieses Modell auch für Kleinkinder einige Nachteile. Kinder verstehen oder hinterfragen Verhaltensweisen häufig nicht und übernehmen diese, ohne zu verstehen, wieso das Modell so gehandelt hat. Dadurch kann das beobachtete Verhalten in Zukunft falsch angewendet werden.
    Trotz einiger Nachteile, die sich meiner Meinung nach hauptsächlich auf die immer präsenteren sozialen Netzwerke beziehen, ist das Modelllernen ein zentraler Mechanismus des menschlichen Lernens. Es ermöglicht, Verhalten, Fähigkeiten und soziale Normen zu erwerben, ohne auf eigene Erfahrungen angewiesen zu sein. Es betont die Rolle von Beobachtung, Nachahmung und kognitiven Prozessen im Lernprozess und zeigt, wie Menschen durch das Beobachten anderer lernen können. Besonders in Erziehung, Bildung, Medien und Arbeitswelt spielt Modelllernen eine wichtige Rolle, da Vorbilder das Verhalten anderer stark beeinflussen. Allerdings birgt es auch Risiken, wenn negative oder unrealistische Vorbilder unreflektiert übernommen werden.
    Modelllernen zeigt also, wie mächtig Vorbilder im Lernprozess sind, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Daher ist es entscheidend, bewusst geeignete Modelle auszuwählen und die kritische Reflexion des Gelernten zu fördern.

    Literatur
    Eigenbrodt, O. (2024). Lerntheorien. Aus: Handbuch Bibliothekspädagogik (S.108- 112). Verlag: De Gruyter.
    Roth, Jürgen (2003/2004). Lerntheorien (S.7). Didaktik der Mathematik, Universität Würzburg. https://www.mathematik.uni-wuerzburg.de/fileadmin/10040500/dokumente/Texte_zu_Grundfragen/roth_lerntheorien.pdf. (zuletzt eingesehen am: 21.02.2025).

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